Die ultimative Logik-Prüfung für deine Geschichte
Kennst du das? Du sitzt vor deinem Manuskript, vielleicht schon im dritten Entwurf. Du liest eine Szene, einen Dialog, eine Beschreibung deines ach so cleveren Magiesystems und… irgendwas knirscht. Es fühlt sich nicht ganz richtig an. Du kannst den Finger nicht drauflegen, aber du weißt, hier ist ein Riss im Fundament. Willkommen im Club der Betriebsblinden, wir haben T-Shirts. Und Kekse.
Ich habe unzählige Stunden damit verbracht, auf meine eigenen Sätze zu starren, bis die Buchstaben zu einer sinnlosen Suppe verschwammen. Ich habe versucht, Logiklöcher mit Prosa-Spachtelmasse zu füllen, in der vagen Hoffnung, niemand würde es bemerken. (Spoiler: Bemerken es immer.)
Was, wenn ich dir sage, dass die Lösung für dieses Problem nicht noch mehr Kaffee oder eine weitere Schreibgruppe ist, sondern ein Alien? Genauer gesagt: ein intelligenter Marsianer, der sich auf deine Schulter setzt und die unverschämtesten Fragen zu deinem Text stellt.
Klingt seltsam? Ist es auch. Aber es ist auch das mächtigste Werkzeug, das ich in den letzten Jahren für mein Schreiben entdeckt habe. Und keine Sorge, die Idee kommt nicht von irgendwelchen Aluhut-Trägern, sondern von einem der cleversten Köpfe des 20. Jahrhunderts.
Okay, wer ist dieser Marsianer und was will er von meinem Manuskript?
Das Konzept des »intelligenten Marsianers« ist ein Gedankenexperiment. Stell dir vor, du musst deinen Roman einem Wesen erklären, das:
a) hochintelligent ist und komplexe Zusammenhänge versteht, aber
b) absolut null Kontextwissen über die Erde, die Menschheit, unsere Kultur, unsere Physik oder das Konzept von »Ehre«, »Liebe« oder »Montagmorgen« hat.
Dieser kleine Kerl auf deiner Schulter liest mit und unterbricht dich ständig mit seiner absoluten Lieblingsfrage: »Warum?«
Die Idee ist ein Bastard aus drei Quellen: dem kulturellen Bild des neugierigen Aliens aus der Science-Fiction, der genialen Lernmethode des Nobelpreisträgers Richard Feynman (»Wenn du es nicht einfach erklären kannst, hast du es nicht verstanden«) und einer Kreativitätsübung, bei der man Konzepte nur mit Zeichnungen erklären muss.
Zusammengefasst: Der Marsianer zwingt dich, nichts – und ich meine NICHTS – als selbstverständlich vorauszusetzen. Du musst jede Annahme, jedes Klischee und jede Konvention deiner Geschichte von Grund auf rechtfertigen.
Die Alien-Inspektion – Ein How-to für deinen Roman
Genug der Theorie, ran an den Speck. Wie genau lässt du dieses Alien auf dein armes, unschuldiges Manuskript los?
Der World-Building-TÜV
Wir alle kennen das. Wir schreiben Fantasy und unsere Regierung ist… eine Monarchie. Warum? Tja, weil… ist halt so in Fantasy. Oder unser Magiesystem? Funktioniert mit Kristallen. Welche Regeln? Äh… die leuchten halt. Das ist der Punkt, an dem gutes World-Building den Unterschied macht.
Hier kommt der Marsianer:
Du: »Also, in meinem Reich herrscht König Alaric.«
Marsianer: »Warum gehorchen ihm alle?«
Du: »Weil er das göttliche Recht hat zu herrschen.«
Marsianer: »Was ist ›göttlich‹? Was ist ein ›Recht‹? Warum glauben die Leute das? Gibt es eine Organisation, die diesen Glauben durchsetzt? Was passiert, wenn jemand sagt ›Nö, glaub ich nicht‹?«
Merkst du was? Die »Warum?«-Kette zwingt dich, von der generischen Vorlage wegzukommen und eine einzigartige, in deiner Welt verwurzelte Struktur zu schaffen. Plötzlich erfindest du eine Priesterkaste, einen Gründungsmythos oder ein brutales Unterdrückungssystem. Dein World-Building bekommt Tiefe und Logik.
Der Charakter-Check
Dein Held ist ein grimmiger Krieger, angetrieben von seinem »Ehrenkodex«. Klingt super, aber was bedeutet das eigentlich? Es ist oft nur ein leeres Etikett für »macht coole, aber irrationale Dinge«.
Hier kommt der Marsianer:
Du: »Er tut das, weil er einen Ehrenkodex hat.«
Marsianer: »Was ist ›Ehre‹? Ist das ein Objekt? Eine Energieform? Warum ist es wichtiger als Überleben?«
Du: »Äh, es ist ein Regelwerk. Wenn er es befolgt, bekommt er Anerkennung von seiner Gilde und fühlt sich gut. Wenn er es bricht, wird er verstoßen und schämt sich.«
Marsianer: »Aha! Es geht also um das Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit und die Angst vor Ausgrenzung.«
BÄM! Plötzlich hast du keine wandelnde Schablone mehr, sondern eine Figur mit nachvollziehbaren, universell menschlichen Motivationen. Du kannst jetzt Szenen schreiben, die genau diesen Kernkonflikt (Zugehörigkeit vs. Überleben) auf die Spitze treiben.
Die Plot-Polizei
Deine Handlung dreht sich darum, dass der Held den »Chronoscepter« finden muss, bevor der Bösewicht den »Flux-Vortex« aktiviert. Klingt beschäftigt, aber die wahren Einsätze sind unklar.
Hier kommt der Marsianer:
Marsianer: »Erkläre mir den Konflikt, aber ohne deine Fantasie-Wörter.«
Du: »Okay… eine Person muss eine andere Person davon abhalten, ein Gerät zu benutzen, das die gesamte Vergangenheit und damit die Identität aller auslöschen wird.«
Dieser einfache Satz ist plötzlich viel kraftvoller. Er entlarvt unnötigen Jargon und zwingt dich, den Kern dessen freizulegen, was auf dem Spiel steht. Du kannst diesen Prozess auf jede Szene anwenden: »Warum geht die Figur jetzt nach X? Was will sie dort wirklich?« Jedes Mal, wenn deine Erklärung ins Stocken gerät, hast du wahrscheinlich ein Plot-Loch gefunden.
Meisterklasse: Wie Andy Weir seinen Marsianer den Marsianer-Test bestehen ließ
Wenn du ein perfektes Beispiel für diese Denkweise in Aktion sehen willst, lies (oder schau) »Der Marsianer« von Andy Weir. Dieser Roman ist die ultimative Blaupause.
- Der Protagonist Mark Watney ist die Methode. Er überlebt nicht, indem er ein Held ist, sondern indem er jedes unlösbare Problem (»Ich bin auf dem Mars gestrandet«) in winzige, lösbare Probleme zerlegt (»Wie stelle ich aus Raketentreibstoff Wasser her?«). Er denkt alles nach dem Prinzip der ersten Prinzipien durch.
- Der Autor Andy Weir nutzt die Methode. Er behandelt uns Leser wie intelligente Marsianer. Er setzt uns nicht einfach komplexe Wissenschaft vor, sondern lässt Watney jeden Schritt in einfachen, nachvollziehbaren Analogien erklären. Dadurch wird aus einer potenziell trockenen Abhandlung ein unfassbar spannender Thriller.
Dein Auftrag, solltest du ihn annehmen…
Der Marsianer auf deiner Schulter ist nicht dein Feind. Er ist dein bester Freund. Er ist der brutal ehrliche Lektor, der keine Rücksicht auf deine Gefühle nimmt und genau deshalb so wertvoll ist. Er deckt jede Schwachstelle auf, damit du sie beheben kannst, bevor es ein Agent, ein Lektor oder – schlimmer noch – ein Leser tut.
Also, beim nächsten Mal, wenn du an deinem Text zweifelst, lade ihn ein. Setz den kleinen grünen (oder grauen, deine Entscheidung) Lektor auf deine Schulter und lausche seinen Fragen. Es wird anstrengend. Es wird dich vielleicht an den Rand des Wahnsinns treiben. Und es wird deinen Roman brillant machen.
Und keine Sorge, wenn er zu nervig wird – du kannst ihn jederzeit wieder auf seinen Planeten zurückschicken. Meistens jedenfalls.








