Woher ich meine Ideen klaue – und warum deine wahrscheinlich wertlos sind

Ein Plädoyer für weniger Ideen-Hype und mehr Handwerk im Autorenleben.

1. Einleitung: Der Fluch der guten Idee

Es gibt zwei Situationen im Leben eines Autors, die so sicher sind wie das Amen in der Kirche und die leere Kaffeetasse am Montagmorgen.

Situation Eins: Die Lesung. Du hast gerade eine Passage gelesen, die dir am Herzen liegt, das Publikum lauscht andächtig, du fühlst dich für einen kurzen Moment wie ein echter Dichterfürst. Dann kommt die Fragerunde. Eine Hand schnellt nach oben. Und dann die Frage. Die Frage. »Woher nehmen Sie Ihre Ideen?«

Innerlich spiele ich eine Runde Bullshit-Bingo. Die ehrliche Antwort wäre ein müdes Schulterzucken. Ideen? Die liegen halt rum, wie Staubmäuse unter dem Sofa. Man muss nur mal kehren. Viele Kolleg:innen antworten dann an der Grenze zur Pampigkeit mit Sätzen wie: »Die habe ich aus dem Ideenversandhandel abonniert«. Meine Strategie ist mittlerweile, mir vor der Lesung eine schöne, kluge Anekdote zur Entstehung genau des Buches zurechtzulegen, aus dem ich lese. Das gibt einen netten Einblick in den Prozess und alle sind glücklich. Aber die Frage selbst entlarvt ein riesiges Missverständnis über unseren Job.

Situation Zwei: Der ungefragte Business-Pitch. Diese Variante ist weniger harmlos. Man trifft jemanden auf einer Party, im Zug, beim Bäcker. Das Gespräch kommt aufs Schreiben. Und dann lehnt sich das Gegenüber verschwörerisch nach vorne und flüstert: »Ich hab da ’ne super Idee für einen Bestseller. Also, die ist wirklich genial. Du schreibst das Buch, und wir machen halbe-halbe.«

Meistens sind diese Ideen so bahnbrechend wie »ein Vampir verliebt sich in eine Sterbliche« oder »ein Kommissar mit Alkoholproblem löst einen Fall«. Nur ein einziges Mal in meiner Laufbahn entpuppte sich so ein Angebot als Goldader. Eine gute Freundin, die ich nicht vor den Kopf stoßen wollte, erzählte mir fast eine Stunde lang eine komplette, durchdachte Geschichte. Ich habe sie dann als Mentor durch den Prozess des Selberschreibens begleitet, und am Ende kam ein wirklich achtbares Buch dabei heraus. Aber das, liebe Leute, ist die absolute, sternenklare, lottogewinn-seltene Ausnahme.

Diese beiden Erlebnisse sind Symptome einer Krankheit: dem Ideen-Kult. Wir vergöttern die Idee, dabei ist sie nur der Zündfunke. Worauf es wirklich ankommt, ist der Motor, den wir daraus bauen. Und vor allem: zu wissen, welcher Funke überhaupt das Potenzial für einen Motor hat.

2. Die Anatomie des Ideen-Hypes: Warum wir uns so verrückt machen

Warum also dieser ganze Zirkus um die Idee? Weil wir auf ein paar Mythen hereinfallen, die so alt sind wie die Tinte auf Gutenbergs Bibel.

  • Der »Heureka!«-Mythos: Wir lieben die Geschichte vom Genie unter der Dusche, dem der Geistesblitz aus heiterem Himmel in den nassen Schädel fährt. Das klingt romantisch, ist aber nur die halbe Wahrheit. Dieser »Blitz« ist meist das Ergebnis von hunderten Stunden unbewusster und bewusster Arbeit, von Recherche, Nachdenken und dem Verwerfen von neunundneunzig schlechten Ideen vorher. Kreativität ist kein Lottogewinn, sie ist Handwerk.
  • Die kalte Dusche des Rechts: Viele Anfänger:innen haben eine panische Angst, jemand könnte ihre geniale Idee klauen. Lasst mich euer Anwalt sein und euch eine ernüchternde Wahrheit präsentieren: Eure Idee gehört euch nicht. Das Urheberrecht schützt keine bloßen Ideen. Die Idee für einen Roman über einen Zauberlehrling an einer magischen Schule ist frei verfügbar. Erst die konkrete Ausführung, das fertige Werk – also »Harry Potter« mit seinen einzigartigen Charakteren, Dialogen und Plot-Twists – ist geschützt. Also, entspannt euch. Niemand will eure Idee klauen. Und wenn doch, könnt ihr rechtlich eh nichts machen.
  • Warum Profis keine Angst haben: Frag mal einen erfahrenen Autor, ob er Angst vor Ideenklau hat. Er wird dich wahrscheinlich müde anlächeln. Profis haben keine Ideen-Knappheit, sie haben eine »Mentalität des Überflusses«. Meine Notizbücher quellen über vor Ideen, die ich in drei Leben nicht schreiben könnte. Das Problem ist nicht der Mangel an Ideen, sondern der Mangel an Zeit. Wir wissen: Selbst wenn zehn Leute die exakt gleiche Idee hätten, kämen am Ende zehn völlig unterschiedliche Bücher dabei heraus. Denn der wahre Wert liegt in der einzigartigen Stimme, dem Stil, der Lebenserfahrung – kurz: in der Ausführung.

3. Die große Entwertung: Wie KI die Idee zur Ramschware macht

Als wäre das alles nicht schon genug, hat die Idee kürzlich noch einen mächtigen Feind bekommen: die Künstliche Intelligenz.

Ich habe neulich mal meinen unbezahlten Praktikanten ChatGPT, gebeten: »Gib mir 20 Ideen für einen Fantasy-Roman.« Innerhalb von 15 Sekunden hatte ich eine Liste. War da was Gutes dabei? Eher nicht. Aber es zeigt: Die reine Generierung von Ideen ist zur Massenware geworden, inflationär und auf Knopfdruck verfügbar.

»Aber kann die KI auch weinen?«, fragt schon Nick Cave. Die entscheidende Schwäche der KI ist, dass sie keine Ahnung hat, was sie da tut. Sie erkennt Muster, aber sie hat keine Lebenserfahrung. Sie hat nie Liebeskummer gehabt, einen Sonnenaufgang am Meer gesehen oder über einen wirklich dummen Witz gelacht. Eine KI ist ein brillanter Generator, aber ein miserabler Kurator. Sie kann dir zwanzig Ideen ausspucken, aber sie hat kein Gespür dafür, welche davon eine Seele hat. Und genau hier kommt unsere neue Superkraft ins Spiel.

4. Die eigentliche Superkraft: Gold von Glimmer unterscheiden

Wenn Ideen also billig, rechtlich wertlos und maschinell herstellbar sind, was ist dann die wahre Währung im Autoren-Business? Es ist nicht die Fähigkeit, Ideen zu haben, sondern die Fähigkeit, sie zu bewerten.

Hier sind zwei knallharte Werkzeuge, mit denen ihr jede eurer Ideen auf den Prüfstand stellen könnt:

  • Der »Zahnbürstentest« für deine Geschichte: Dieses Konzept stammt von Google-Gründer Larry Page, der damit potenzielle Firmenübernahmen bewertete. Für uns Autor:innen lässt es sich so übersetzen:
    • Für dich: »Ist diese Idee so fesselnd, so obsessiv machend, dass ich bereit bin, die nächsten ein, zwei oder fünf Jahre jeden einzelnen Tag damit zu verbringen?« Eine Idee, die diesen Test nicht besteht, wird den Marathon der Romanentstehung niemals überleben.
    • Für deine Leser:innen: »Bietet diese Geschichte einen so fundamentalen Wert – sei er emotional, intellektuell oder unterhaltsam –, dass das Publikum immer wieder gedanklich zu ihr zurückkehren möchte?«
  • Die unbarmherzige »Und dann?«-Probe: Das ist mein persönlicher Favorit, das Skalpell der Dramaturgie. Eine schwache Idee führt nur zu einer Chronik, einer Aneinanderreihung von Ereignissen. Der große E. M. Forster brachte es auf den Punkt: »Der König starb, und dann starb die Königin.« Das ist eine Sequenz, keine Geschichte.
    Eine starke Idee hingegen ermöglicht einen Plot, eine Kette von kausalen Zusammenhängen. Forsters Beispiel: »Der König starb, und dann starb die Königin aus Gram.« Bumm! Plötzlich ist da ein Motor. Das zweite Ereignis ist eine direkte Folge des ersten. Stellt eurer Idee immer und immer wieder die Frage: »Und dann?«. Wenn die Antwort zu oft »und dann passierte halt das« lautet, statt »deshalb musste XY geschehen«, dann hat eure Idee keinen Saft.

5. Fazit: Bewaffnet für den nächsten Ideen-Pitch

Hört auf, auf die eine, perfekte Idee zu warten. Sie wird nicht kommen. Ideen sind billig. Eure Zeit, eure Energie und eure Fähigkeit zur Umsetzung sind unendlich kostbar. Seid stolz auf euer Handwerk, nicht auf eure zufälligen Geistesblitze.

Und wenn euch das nächste Mal jemand auf einer Party den »50/50«-Deal anbietet, lächelt freundlich und zückt euer neues Werkzeug. Fragt einfach: »Spannende Idee! Und was passiert dann?« Bohrt weiter. »Und wie genau reagiert die Hauptfigur darauf? Und was ist die Konsequenz daraus? Und dann?«

Ihr werdet zusehen können, wie die meisten Jahrhundertideen zerfallen wie ein Vampir im Sonnenlicht.

Jetzt geht los und baut Motoren. Die Funken fliegen euch bei der Arbeit von ganz allein zu.

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Helmut Barz – WortSupport

Dramatiker, Romancier, Vortragskünstler ebenso wie Texter und Übersetzer: Seit mehr als drei Jahrzehnten gehört meine Liebe dem Aneinanderreihen von Wörtern – eine Leidenschaft, die zum Beruf geworden ist. In diesem Blog versammele ich meine Expertise rund um das kreative Schreiben. 

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